Bei meiner beruflichen
Tätigkeit beobachte ich oft, wie Begleitpersonen im Wartezimmer
sitzen und trotz ausliegender Literatur für eine geschlagene
Stunde nichts weiter tun als vor sich hinzustarren, einfach dasitzen
und in die Leere blicken. Dabei machen sie selten den Eindruck,
dass sie sich mit einem schwerwiegenden Problem beschäftigen.
Dann steigt in mir die leise Frage auf, ob das eventuell bereits
die ersten Anzeichen von Altersdemenz oder Alzheimer sind. Zugegeben,
diese Beobachtungen kann man auch morgens in der Bahn oder im Bus
machen, wenn die Leute unausgeschlafen sind oder eben grundsätzliche
Morgenmuffel sind. Aber sollte dieser Ausnahmezustand den ganzen
Tag anhalten?
Bis vor gar
nicht allzulanger Zeit war man auch in medizinischen Fachkreisen
der Ansicht, dass das Nachlassen der geistigen Spannkraft, des Erinnerungsvermögens
und der Kreativität mit zunehmendem Alter eine natürliche
oder, etwas despektierlicher ausgedrückt, eine gottgegebene
Angelegenheit sei.
In den letzten Jahren gibt es aber eine Reihe von Untersuchungen,
die ein Fünkchen Hoffnung aufkommen lassen, das dies nicht
so ist bzw. nicht sein muss.
Die Zeitschrift "Der Spiegel" nahm sich in seiner Ausgabe
Nr. 20 vom 15. 5. 05 unter dem etwas plakativen Titel "Hirn,
kuriere dich selbst" dieses Themas ausführlich an - meines
Erachtens eines der interessantesten Artikel der letzten Jahre.
Die markantesten Ergebnisse wurden am Riechhirn von Mäusen
festgestellt. Diesen Tieren, in einem geruchsdichten Käfig
aufgewachsen und nur mit dem Eigengeruch konfrontiert, wurden für
sie völlig neue, unbekannte Gerüche vor die Nase geführt.
Die Forscher beobachteten dabei folgendes: Nervenzellen entstehen
in bestimmten Regionen des Vorderhirns und wandern dann in den Bulbus
olfactorius als spezifische Riechzellen. Wenn am Tag ihrer Entstehung
die Tiere neue Gerüche präsentiert bekommen, dann reifen
die bis dato fast unspezifischen Zellen zu besonders spezifischen
Nervenzellen heran, die zu anderen Riech- und Hirnzellen Verknüpfungen
in Form von Zellfortsätzen und Synapsen herstellen und damit
wohl auch über den Hypothalamus in das interaktive Geschehen
zu anderen Sinnesorganen und wahrscheinlich auch zum Endokrinium
eingebunden werden.
(Über die Bedeutung des Hypothalamus hat H.W.Woltersdorf in
vielen seiner Bücher berichtet)
Interessant ist, dass die bis dato vorhandenen Riechzellen sich
gegenüber neuen Düften relativ passiv verhalten. Mit den
neuen Riechzellen scheint sich das Gehirn auf das Wahrnehmen und
Erlernen neuer Duftnoten zu spezialisieren - eine Art Erweiterung
des "Riechhorizonts" also.
Ein zwar nicht ganz stimmiger, aber in der heutigen Zeit verständlicher
Vergleich wäre das sukzessive Brennen einer CD oder DVD, bei
der mit jedem neuen Brennvorgang neue Daten auf bisher leere Bereiche
übertragen und damit fortan aktiv genutzt werden können.
Nach neuesten Erkenntnissen reifen neue Nervenzellen (Fachwort:
Neurogenese) bis ins hohe Alter heran und dies deutet auf eine lebenslange
Entwicklung hin. Aber - und das dürfte das entscheidende zu
sein - eine effektive Entwicklung der entstehenden Neuronen ist
abhängig von der Lebensführung, das heisst vom Erlernen
von Neuem, von der Akzeptanz geistiger Herausforderung und zudem
von körperlichen Aktivitäten.
An dieser Stelle steigen in einem kritischen Beobachter Schreckensszenarien
vor das geistige Auge: Permanenter Fernsehkonsum mit teilweise an
Banalität nicht mehr zu überbietenden Programmen, Filme
voll grenzenloser Stupidität begleitet von eimergrossen Popcorn-Behältern
und litergrossen Süssgetränkbechern, Zeitschriften mit
Telegramm-Stil-Modus, möglichst wenig Bewegung (Winston Chuchill
mit seinem Ausspruch: "No sports!" war wohl eine Ausnahme)
und dazu noch das Naschen / Knabbern von Billigstnahrung - und das
über Jahre hinweg - kann das für eine Altersvorbereitung,
für das geistige Fit-Sein bis ins Alter gut sein?
Während
Kinder begierig sind, Neues zu lernen und zu erleben, lässt
diese Neugierde mit zunehmendem Alter bei vielen Menschen nach.
Dieser Drang wird durch Gewohnheiten und wiederkehrende Verhaltensmuster
ersetzt. Eines der bekanntesten Mottos lautet: "Das haben wir
schon immer so gemacht". Um nur zwei Beispiele anzuführen:
Es artet in streng reglementierte Tagesabläufe aus und führt
zum zwanzigsten Mal an den gleichen Urlaubsort.
Eines
gilt für die Wissenschaftler als sicher: Täglich werden
im Hippocampus, einer seitlich gelegenen Hirnregion, einige tausend
neue Neuronen gebildet. Setzt man dies in ein Verhältnis zu
den Milliarden von bestehenden Neuronen des Gehirns, mag das gering
sein. Aber im Unterschied zu den vorhandenen Zellen weisen die Neuzugänge
eine Aufnahmefähigkeit auf. Damit scheint die Natur eine Art
Wandlungsfähigkeit des Gehirns eingeplant zu haben: Das Alte
zu bewahren, in Form von Erinnerung, und zugleich die Möglichkeit,
Neues aufzunehmen und damit eine Anpassungsfähigkeit zu bewirken.
Neurologen aus Jena und Regensburg liessen junge Probanden im Alter
von ca 22 Jahren drei Monate lang das Jonglieren lernen. Die geschicktesten
konnten danach drei Bälle für ca eine Minute lang in der
Luft halten. Beim MRT-Vergleich zeigte sich bei den Jongleuren im
Vergleich zu untrainierten Versuchspersonen eine Veränderung
/ Vergrößerung des Gehirns im Seitenlappen. Nach einer
Pause von ca. drei Monaten bildete sich aber ein Teil der neuen
Zellen zurück.
Menschen, die eine neue Sprache lernen, verändern ihr Gehirn
ebenfalls, und zwar in einem bestimmten Bereich der Hirnrinde.
Das Gehirn scheint sich ähnlich einem Muskel zu verhalten:
Ein Training verändert sowohl das eine wie das andere.
Aber Bodybuilding allein scheint wohl kaum ein geeignetes Mittel
zur Aktivierung der entstehenden Neuronen zu sein. Obwohl man es
damit sogar bis zum Gouverneur eines Staates der USA bringen kann.
Deswegen kann man ja auch vom Land der unbeschränkten Möglichkeiten
sprechen und nicht der beschränkten.
Bei einer Untersuchung an 642 alten Menschen mit unterschiedlicher
Ausbildung stellten Forscher aus Chicago fest: Jedes Studienjahr
senkte das Alzheimer-Risiko um rund 17 Prozent. Dies sollte aber
keinesfalls eine Aufforderung für ein Langzeit-Studium sein,
sondern mehr ein Plädoyer für mehr geistige und körperliche
Aktivitäten während des gesamten Lebens. Es wäre
in diesem Zusammenhang interessant, eine Überprüfung der
vielen Senioren vorzunehmen, die nach der Pensionierung wieder auf
der Universität Seminare und Kurse belegen. Einige Unis haben
aber inzwischen einen leichten Riegel zu Gunsten der Jugend vorgeschoben,
um ihnen die knappen Plätze zu reservieren.
Mitte der Neunziger Jahre gab es eine weitere hochinteressante Untersuchung:
Altersforscher hatten 130 katholische Geistliche und Nonnen während
ihres Lebens auf ihre kognitiven Fähigkeiten untersucht und
mit ihrer vorher erteilten Erlaubnis ihre Gehirne nach dem Tod histologisch
untersucht. Unabhängig von ihrer Ausbildung waren die typischen
Plaques des Morbus Alzheimer in allen Gehirnen gleich häufig
anzutreffen.
Es zeigte sich aber ein signifikanter Unterschied: Die Gehirne waren
durch diese Ablagerungen unterschiedlich stark beeinträchtigt.
Menschen mit einer besseren Ausbildung hatten im höheren Alter
wesentlich bessere kognitive Fähigkeiten als jene mit einer
einfachen Ausbildung. Und was noch interessanter ist: Eine gleiche
Symptomatik zeigte sich bei den besser Ausgebildeten erst, als sie
fünfmal so viel Plaques aufwiesen als die weniger geforderten
Gehirne.
Die von vielen so stark erwünschte Frühpensionierung ohne
eine Vorbereitung auf diese Zeit danach erscheint daher als ein
Risiko zum erhöhten Auftreten von Alzheimer.
Einen Aspekt, der im "Spiegel" unerwähnt bleibt,
möchte ich noch hinzufügen. Kann es sein, dass bei manchem,
wie man annimmt, altersbedingten Nachlassen der Hirnfunktionen das
Quecksilber aus dem Amalgam eine Mittäterschaft ausübt?
Quecksilber-Ionen und seine Salze sind bekanntlicherweise Neurotoxine,
obwohl es noch immer zahnmedizinische "Kapazitäten"
gibt, die dies in Frage stellen. Über die Jahre hinweg konnte
ich einige Male weiblichen Patienten, die über starken Haarausfall
klagten, helfen, indem das Amalgam entfernt wurde und die Toxine
ausgeleitet wurden. Gerade im Haarbalg findet eine ständige
Aktion statt.
Könnte das Amalgam insofern bei der wesentlich empfindlicheren
Neurogenese eine ebensolche Rolle spielen. Bei diesen Gedanken handelt
es sich um Vermutungen, die noch eines Beweises bedürfen. Ich
kann nur von Einzelfällen berichten, in denen die Patienten
mir angaben, nach der Entfernung des Amalgams grössere Klarheit
im Kopf zu verspüren.
In den "Spiegel"-Artikel
ist zudem ein aufschlussreiches Interview mit dem in Österreich
geborenen Hirnforscher und Nobelpreisträger Eric Kandel eingebettet.
Darin beschreibt er unter anderem, dass Erinnerungen um so besser
im Gehirn gespeichert werden, wenn sie mit irgendwelchen gefühlsmässigen
Komponenten verbunden sind. Für deutsche Verhältnisse
verblüffend: Mit seinen 76 Jahren wird er nicht in die Zwangspensionierung
geschickt, sondern sein Forschungsauftrag, gerade was die kognitiven
Fähigkeiten älterer Menschen anbetrifft, ist gerade um
acht (!) Jahre verlängert worden.
In der Überschrift habe ich das Wort "Sehnsucht der Neuronen"
verwendet. Nimmt man die geschilderten Untersuchungsergebnisse zur
Kenntnis, dann scheint es nachgerade ein Verlangen, eine Sehnsucht
der Neuronen zu sein, gefordert zu werden, aktiviert zu werden und
nicht als ungenutzte Reserve zu verkümmern.
Sie sind offenbar die von der Evolution als Hoffnungsträger
eingebauten Gehirnanteile, die den Menschen aus Dumpfheit und Leere
zu einem ständigen Entwicklungsprozess befähigen sollen,
lebenslang, bis eben die Lebensuhr zur endgültigen Abschiedsstunde
schlägt.
Dr. Dietrich
Volkmer
Vom Autor gibt es eine Reihe von Büchern, die lesenswert sind:
Dietrich
Volkmer, Der Urknall - Eine Fiktion der
Astrophysik
Verlag: Books on Demand,
Eine
der interessantesten Fragen für den Menschen generell,
wenn er neugierig ist, ist die Frage nach dem Beginn, dem Ur-Anfang.
In diesem Buch setzt sich der Autor kritisch mit den oft unhaltbaren
und unglaubwürdigen Thesen der Wissenschaft auseinander.
Näheres: www.literatur.drvolkmer.de |
D.
Volkmer, Die Odyssee - Eine psychologische Reise nach Ithaka
Verlag Books on Demand,
Es ist der Versuch, die Heimfahrt des Odysseus etwas aus psychologischen
Aspekten näher zu beleuchten, denn das 2800 Jahre alte
Epos des Dichters Homer ist mehr als nur eine Abenteuer-Geschichte
Näheres: www.literatur.drvolkmer.de |
Der
erste Messias ? - Bildnis eines zu früh Geborenen
Autor: D. Volkmer
Books
on Demand,
80 Seiten,
1 Farbseite, 12.50 EUR
Dieses
Buch ist quasi eine Ergänzung des Buches "Tagebücher
vom Nil". In jenem Buch stand die fiktive Tagebuch-Form
von Echnaton, Nofretete und Teje im Vordergrund.
In diesem Buch geht es um die Religion, seine Religion des
Lichts.
Es zeigt den Weg der Menschen auf vom Pandämonismus über
den Pantheismus zum Polytheismus und schlussendlich zum Monotheismus.
Es beschreibt die mutigen Entscheidungen des jungen Pharao,
seine Kunst, seine Bauformen, seinen neuen Gott und die Grundzüge
seiner Religion.
Im Buch wird der Versuch unternommen, zu fragen, ob er so
etwas wie ein früher Messias war, wobei das Wort, seine
Bedeutung und der Inhalt hinterfragt werden. Näheres:
www.literatur.drvolkmer.de
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